Migros Magazin Nr 36, 31. August 2009 |
Tauschgeschäft: Regula Harringer präsentiert Gerd Rubin ihre Blachentaschen. Weil er ihr den Computer aufrüstet, bekommt er als Lohn eine Tasche. Hilfe bei PC-Problemen? Eine Massage gefällig? Die Hecke schneiden oder Schwimmen lernen? In Tauschbörsen bekommt man diese Dienstleistungen kostenlos. Und das ist nur ein Grund, warum Tauschbörsen in Krisenzeiten boomen.
Mehr als 350 Mitglieder der Zeitbörse von Benevol
Zum Glück gibt es noch Menschen, die sich nicht mitreissen lassen vom Glauben, dass einzig und allein Geld die Welt regiert. So wie die mehr als 350 Mitglieder der Zeitbörse von Benevol, der Fachstelle für Freiwilligenarbeit des Roten Kreuzes St. Gallen. Denn die Leute, die da mitmachen, bieten eine Dienstleistung an, ohne Geld dafür zu verlangen. Als Gegenleistung dürfen sie eine andere Dienstleistung beanspruchen. «Abgerechnet wird bei uns in Stunden. Egal, welche Arbeit geleistet wird, jede Stunde ist gleich viel wert. Deshalb werden Stunden auch nicht bezahlt, sondern getauscht. Das heisst, wenn ein Mitglied einer anderen Person eine Stunde lang die Fenster putzt, darf es für eine Stunde die Dienstleistung eines anderen Mitglieds in Anspruch nehmen», erklärt Christoph Härter, Projektleiter der Zeitbörse St. Gallen.
In der Zeitbörse sind Menschen mit unterschiedlichen Talenten. Eine Frau, die Fenster putzt, ist gleichwertig einem Mann, der ein Computerprogramm installieren kann. «Das ist sehr solidarisch in einer Welt, in der ein Banker unvorstellbar mehr als eine Putzfrau verdient», sagt Martin Geber, Mitglied der Zeitbörse St. Gallen.
COMPUTER AUFRÜSTEN GEGEN BLACHENTASCHE
Regula Harringer (64) aus St. Gallen und Gerd Rubin (65) aus Wittenbach SG.
Gerade kürzlich hat die 64-jährige Regula Harringer den Einstieg in die PC-Welt gewagt. Doch schnell kam sie an einen Punkt, wo sie bei der Internetrecherche schneller war als ihr Computer. Spätestens da war die ehemalige Krankenschwester mit ihrem Latein am Ende. «Der muss aufgerüstet werden», sagte ihr Mann, der als Finanzchef der Stadt St. Gallen zwar die Finanzen im Griff hat, aber beim Aufrüsten des Computers seiner Frau auch nicht direkt weiterhelfen kann.Als eifriges Mitglied der Zeitbörse weiss sich Regula Harringer jedoch zu helfen: Ein Blick in die Angebote der Börse, und sie wird schnell fündig. Ein Anbieter schreibt: Alltagsprobleme mit dem PC? Die müssen nicht sein. Ich baue Ihr System aus, helfe bei Installationsproblemen.Ein Mail und zwei Anrufe später steht Gerd Rubin aus Wittenbach vor ihrer Tür. «Du bist ja schneller als jeder professionelle PC-Supporter», scherzt Regula Harringer bei der Begrüssung. Man kennt sich bereits flüchtig, hat sich schon bei den Treffen der Zeitbörse St. Gallen gesehen. Deshalb auch sofort das Du, das unter den Mitgliedern der Börse gang und gäbe ist.
In der Krise unnötige Ausgaben vermeiden
Während Gerd Rubin sofort den Computer in Beschlag nimmt und den Arbeitsspeicher erweitert, holt Regula das Tauschobjekt, das Gerd Rubin für seine Dienste erhält, eine Blachetasche, von Harringer entworfen und genäht. «Ich bin in einer privilegierten Lage», gibt sie unumwunden zu. «Ich muss mit dem Nähen nicht meinen Lebensunterhalt verdienen, sondern kann mein Hobby voll ausleben und anderen Menschen damit eine Freude bereiten.» Ehrenamtlich arbeitet sie schon viele Jahre mit Behinderten. Die Mitgliedschaft in der Zeitbörse ist ihr jedoch ein besonderes Anliegen. «Ich gebe und nehme, das macht zufrieden. Und niemand ist dominant, alle Talente sind gleichwertig. Hier spielt es keine Rolle, wer du bist.«Kürzlich hat ihr eine Frau den Teppich shampooniert, damit sie bei einem anderen Mitglied einen Computer-Support beanspruchen kann. «Mehr als 100 Franken pro Stunde muss man normalerweise dafür hinblättern. Das kann sich nicht jeder leisten. Und gerade in der Krise sind doch viele froh, wenn sie unnötige Ausgaben vermeiden können», sagt Regula Harringer.Nach einer Stunde verlässt Gerd Rubin zufrieden mit der Blachetasche unter dem Arm das Haus. Sein aktueller Kontostand: 71,5 Stunden geleistet und nur 52 in Anspruch genommen. Gerd Rubin ist eigentlich ein Mensch, der lieber gibt als nimmt.
Not macht erfinderisch
Auch wenn die Krise bei der Mehrheit der Schweizer bisher spurlos vorübergegangen ist, so ist Gerd Rubin, ein ehemaliger Flugzeugspengler und Informatiker, überzeugt, dass Tausch- und Zeit-börsen in Krisenzeiten stärkeren Zulauf erfahren, und appelliert zugleich an Leute, die in der Krise ihren Job verloren haben: «Macht bei uns mit, bringt eure Talente ein!» Manch einen mag das vor dem Gefühl bewahren, nichts mehr wert zu sein.
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Sniletin Fivlaa (29), Papeteristin aus St. Gallen, und Martin Gerber (56), Informatiker aus Herisau.
TÖFFFAHRT GEGEN GESCHENKE EINPACKEN
Etwas unbeholfen steigt Sniletin Fivlaa auf die Suzuki Enduro. Die 29-jährige Papeteristin aus St. Gallen ist in ihrem Leben noch nie auf einem Motorrad gesessen. «Ein tolles Teil», muss sie beim Anblick ehrlicherweise zugeben, obwohl ihr bei dem Gedanken, da gleich mitzufahren, doch etwas mulmig zumute ist. «Ich fahre halt lieber Velo», gibt sie zu. Trotzdem träumt sie schon lange von einer Töfffahrt.«Musst keine Angst haben. Ich fahre vorsichtig», verspricht ihr Martin Gerber (56), Computerfachmann aus Herisau. Was hier gerade abläuft, ist ein Rendez-vous der ganz besonderen Art: das Einlösen eines sogenannten Tauschgeschäfts. Der Mann in der Motorradkluft und die eher zurückhaltende Frau wären sich wahrscheinlich nie im Leben begegnet, und doch werden sie nun einen ganzen Nachmittag auf einer Spritztour durchs hügelige und kurvenreiche Appenzellerland verbringen. «Die Zeitbörse St. Gallen hat uns zusammengeführt», erzählt Martin Gerber.
Martin Gerber ist aktiver Tauschpartner in der Börse. 63 Arbeitsstunden hat er in diesem Jahr schon zu verbuchen. Der Computerspezialist ist ein Mann für alle Fälle: Nebst Motorradausfahrten, hilft er bei Umzügen, bietet Lektionen mit der Digitalkamera an, Inline skaten, Malen mit Licht und hat auch schon Hecken geschnitten. «Als Gegenleistungen habe ich mir einen Zopf backen, einen Schal stricken lassen, Yogastunden genommen, meine Töffjacke flicken lassen.»
In der Freizeit nur noch schöne Dinge tun
Fivlaa hat ihr Talent bereits an Weihnachten unter Beweis stellen können und Martin von einer schweren Last befreit. Denn etwas, was er gar nicht mag, ist, «go lädele zga». «Ich habe ihm all seine Weihnachtsgeschenke besorgt und sie liebevoll eingepackt», erzählt die gelernte Papeteristin, die als Kauffrau in einem Bürogeschäft arbeitet. Denn eine Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der Tauschbörse ist, dass man die Tätigkeit, die man anbietet, nicht hauptberuflich ausübt, weil sie sonst unter Schwarzarbeit fallen würde. «Das ist ja der Sinn dieser Tauschbörse. Man macht Dinge, die man gern tut, und erhält Dienstleistungen für Arbeiten, die man nicht gut kann.»
Während Martin sich von der Tauschbörse eine bessere Integration in seinem Wohnort Herisau erhofft, wo er schon viele Jahre lebt, aber durch berufsbedingte Abwesenheiten kaum jemanden kennt, ist Fivlaas eindeutiges Ziel: «Ich will in meiner Freizeit nur noch schöne Dinge tun und das, was mir keinen Spass macht, anderen überlassen.»
Die 89-jährige Alice Lengweiler erteilt der 44-jährigen Christina Alder Schwimmunterricht.
SCHWIMMKURS GEGEN MASSAGE
Alice Lengweiler (89) und Christina Alder (44) aus St. Gallen
Stadtschwimmbad St. Gallen: Im Becken steht die 89-jährige Alice Lengweiler und gibt Anweisungen: «Arme nach hinten und nicht zur Seite!» «Nein, Christina, so geht das nicht», sagt sie mit resoluter Stimme. «Warte, ich zeigs dir.» Und schon gleitet die alte Dame rückwärts kraulend durchs Becken – sanft wie ein junger Fisch. Christina Alder, 45 Jahre jünger als ihre Lehrerin, steht bewundernd daneben. Kennengelernt haben sich die beiden Frauen ebenfalls über die Tauschbörse St. Gallen, wo Alice Lengweiler zurzeit das älteste Mitglied ist. «Seitdem ich anderen Menschen Schwimm-unterricht erteile, macht mir das Leben noch mehr Spass. Denn Menschen, denen ich dort begegne, machen mein Leben wertvoller», sagt die rüstige Rentnerin. «Ich möchte nicht vereinsamen. Die Tauschbörse ist zugleich Anlaufstelle für mich, um Kontakte zu pflegen.»
Zum Helfen nicht zu alt
Als Alice von der Zeitbörse erfuhr, war sie sofort begeistert: «Da mache ich mit. Früher hätte ich wahrscheinlich eine Freundin mitgenommen, aber von denen sind inzwischen schon viele gestorben. Und die, die mir noch geblieben sind, haben alle so ihre Wehwehchen. Ich aber fühle mich noch nicht zu alt, anderen Menschen zu helfen», sagt sie.
Von ihrer Schwimmschülerin bekommt Alice Lengweiler im Anschluss eine wohltuende Rückenmassage. Während Christina Alder in ihrer Wohnung der rüstigen Rentnerin den Rücken massiert, erzählt sie von ihrer Massageausbildung, die sie 1997 in Salt Lake City absolviert hat. Christina, die als Sozialbegleiterin Arbeitslose in St. Gallen betreut, ist froh, dass ihr Talent nicht ungenutzt bleibt und sie es einsetzen kann, um dafür eine andere Dienstleistung kostenlos in Anspruch zu nehmen. So hat sie sich bereits beim Umzug helfen lassen, die Fenster zu putzen, und in den Ferien giesst immer irgendjemand ihre Blumen. «Das ist eine neue Form der erweiterten Nachbarschaftshilfe», erzählt sie und: «Ich finde es gut, dass hier mal das Geld völlig ausgeblendet wird und jede Arbeit gleich viel wert ist.»
TEXTE ANETTE WOLFFRAM EUGSTER / BILDER JORMA MÜLLER
Tauschbörsen im Internet
www.zeitboerse.ch (Tauschbörse St. Gallen)
www.tauschnetz.ch (Luzerner Tauschnetz)
www.talent.ch (Übersicht über alle Schweizer Tauschorganisationen)
www.exsila.ch (Tauschbörse für Filme, Games, Bücher, Musik, Hörbücher)